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Wilhelm Heitmeyer Die Krise ist keine Chance

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Welche praktischen Folgen hat das Gefühl, in einer Krise zu leben?

Die Krise wirkt destruktiv. Sie verändert das Gefühl, was ?normal? ist. In Krisenzeiten nimmt die persönliche Desintegration zu. Menschen verlieren ihre Arbeit, haben das Gefühl, (politisch) machtlos zu sein, auch Freundschaften oder das Verhältnis zur Familie können leiden. Das heißt, es gibt für den Einzelnen oder die Einzelne weniger Möglichkeiten, Anerkennung zu finden. Wer selbst wenig Anerkennung findet, ist schneller bereit, andere Menschen abzuwerten. Jeder möchte ein positives Selbstbild haben. Wenn ich das nicht durch soziale Integration bekomme, etwa einen guten Arbeitsplatz, Möglichkeiten der (politischen) Mitbestimmung, einen funktionierenden Freundes- und Familienkreis, versuche ich durch die Abwertung anderer Menschen, mich besser zu fühlen. Nach dem Motto: Da ist jemand, dem geht es noch mieser als mir.

Durch die wirtschaftliche Krise kommt es in größeren Teilen der Bevölkerung zu beschädigten Lebensläufen und zu Kontrollverlusten über das eigenen Leben. Es passieren Dinge, die für den Einzelnen nicht mehr planbar sind. Das führt nicht zwangsläufig zur Abwertung anderer ? eine andere typische Reaktion ist etwa das Versinken in Depression und Zurückgezogenheit. So oder so wirkt die Krise sozial zerstörerisch ? sie ist keine Chance, auch wenn manche es so verkaufen wollen!

Wie kommt es zu dieser Entwicklung?

Ein grundsätzliches Problem ist die ?Ökonomisierung des Sozialen?: Faktoren aus der Wirtschaft werden auf das soziale Leben übertragen, Menschen nach ihrer ?Nützlichkeit? beurteilt. Unsere Forschungsdaten zeigen, dass erstaunlicherweise gerade Menschen am unteren Ende sozialen Schichtung diese Muster übernehmen und auf den daraus resultierenden Frust mit Abwertung anderer reagieren. Gleichzeitig fühlen viele Menschen Machtlosigkeit. Sie haben den Eindruck, ihr eigenes Leben nicht mehr bestimmen zu können.

Die Krise trägt also dazu bei, dass Menschen rassistischer, antisemitischer, ausgrenzender agieren. Was heißt das für die Arbeit gegen Menschenfeindlichkeit?

Erkennbar ist, dass in Krisenzeiten die universalistischen Werte auf dem Prüfstand stehen, die für eine plurale Gesellschaft eigentlich unverhandelbar sein sollten, etwa Gleichwertigkeit, das Recht auf physische und psychische Unversehrtheit, Gerechtigkeit, Fairness, Solidarität. Stattdessen kann es einen Rückfall in partikularistische Werte geben, wenn etwa britische Arbeiter dafür demonstrieren, dass es Arbeitsplätze zuerst für Briten geben soll.

Natürlich können NGOs nicht die Arbeitsmarktsituation verändern. Möglich sind kleine Schritte. NGOs können vor allem versuchen, vor Ort Einfluss auf die politische Kultur und das soziale Klima zu nehmen: Im Sportverein keine rassistischen Sprüche dulden. Die Politik muss Aktivitäten aus der Zivilgesellschaft unterstützen, aber aus dem mechanischen Denken herauskommen, dass ich nur Geld geben muss, und dann löst sich das Problem der NPD auf und alles menschenfeindliche Denken verschwindet aus den Köpfen. Das ist naiv und politisch gefährlich.

Aber was funktioniert denn?

Wir müssen Anerkennungsalternativen schaffen. Das ist schwer. Nehmen Sie Rechtsextreme, die Gewalt als ihre Anerkennungsquelle nehmen: Sie bringt ihnen Zugehörigkeitsgefühl, ein Gefühl von Stärke. Die eigene Angst wird verjagt, indem man kollektiv anderen Angst einjagt. Statt Ohnmacht fühlt der Ausführende dann Macht. Das sind starke Effekte. Wer sich Gewalt als Anerkennungsmechanismus erst einmal zugelegt hat, legt ihn nicht so schnell wieder ab.

Wurde nicht im ?Aktionsprogramm gegen Aggressivität und Gewalt (AGAG)? , dem ersten Bundesprogramm gegen Rechtsextremismus 1992 bis 1996, recht vergeblich auf Anerkennung gesetzt?Die Rechtsextremen bekamen mit staatlicher Unterstützung die Jugendclubs und Bandproberäume, in denen Sie sich erst richtig organisieren konnten.

Sicherlich ist da praktisch viel schief gelaufen, aber den Ansatz finde ich richtig. In den letzten Jahren wurde vermehrt gesagt: Wir konzentrieren uns nur noch auf die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteure, statt mit Rechtsextremen zu arbeiten. Das allein funktioniert auch nicht. Ein komplexes Problem wie Rechtsextremismus braucht vielfältige Lösungsansätze.

Vor allem möchte ich im Moment aber vor einfacher Politikbeschimpfung warnen. Die Politik steht derzeit sowieso auf einem schwankenden Legitimationsboden und kämpft mit der Wirtschaft darum, wer die Kontrollinstanz der Gesellschaft ist. Damit sich die Politik die Unterstützung der Bevölkerung sichert, muss sie neue Beteiligungsformen auf kommunaler Ebene erarbeiten. Nur wenn Menschen Selbstwirksamkeitserfahrungen machen, sind sie bereit, sich für die Gemeinschaft zu engagieren.
Im Bezug auf Jugendliche finde ich, dass Gesellschaft mehr Plätze schaffen muss, an denen die Wut der Jugend auch Gehör findet, wo sie ihre Meinung sagen und auch einmal Sand im Getriebe der Demokratie sein darf ? auch das ist eine Frage der Selbstwirksamkeitserfahrung.

Denken Sie, dass es in Deutschland aufgrund der Krise zu sozialen Unruhen kommen kann?

Es gibt dafür verschiedene Varianten. Die erste ist die individuelle Wut: Die ist definitiv vorhanden. Diese kanalisiert sich in geregelten Massenprotesten ? das beginnen wir aktuell in Deutschland zu sehen, und das erwarte ich auch verstärkt für die kommende Zeit. Die dritte Stufe sind nicht steuerbare, gewalttätige sozialen Unruhen. Dafür gibt es in Deutschland derzeit und aus der Protestgeschichte keine Grundlagen. An gewalttätigen Demonstrationen teilzunehmen, erhöht das persönliche Risiko, etwa von Arbeitslosigkeit bedroht zu werden, deshalb schrecken viele davor zurück. Und Arbeitslose haben, weil sie aus ihrer Zeitstruktur entwurzelt, ermüdet und entpolitisiert sind, generell kein Demonstrationspotenzial, wie die Geschichte zeigt. Außerdem müssten dazu auch Führende bereit sein, für solche Ausschreitungen die Verantwortung zu übernehmen.

Aber könnten es nicht genau die Rechtsextremen sein, die in dieser Hinsicht mobilisieren?

Die sind allerdings keine Massenbewegung in Deutschland. Ihre Parteien könnten profitieren, ihre Propaganda findet vielleicht mehr Zustimmung ? gerade Kapitalismuskritik und soziale Themen, denen Neonazis sich zurzeit annehmen. Aber sie haben zum Glück keine Charismatiker, die im großen Stil mobilisieren können.

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