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Rechtsextremes Mord-Trio erschüttert die Republik

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Die Geschichte der drei Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe wird immer unglaublicher, je mehr Details ans Licht kommen. Offenbar sind die drei Neonazis, die in den 1990er Jahren dem „Thüringer Heimatschutz“ angehörten, nicht nur die Mörder_innen der 22-jährigen Polizistin Michèle Kiesewetter (2007 in Heilbronn erschossen), sondern haben in den Jahren 2000 bis 2006 mindestens neun weitere Morde bundesweit begangen, die damals unter der recht rassistischen Bezeichnung „Döner-Morde“ durch die Presse gingen und sind außerdem verdächtigt, mehrere weitere rechtsextrem motvierte Bombenanschläge verübt zu haben, unter anderem den Nagelbombenanschlag 2004 in Köln. Dazu kommen nach derzeitigem Ermittlungsstand 14 Banküberfälle. Dabei waren sie angeblich 13 Jahre untergetaucht, ohne dass Verfassungsschutz oder Polizei davon Wind bekommen haben wollen.

Das Anfang vom Ende der Zelle des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) war ein Banküberfall am 04.11.2011 in Eisenach. Uwe Mundlos (38) und Uwe Böhnhardt (34) überfielen dort eine Bank – erfolgreich. Nur bekam offenbar ein Polizist mit, dass sich die beiden versierten Bankräuber in einem Wohnwagen in der Nähe versteckten. Die Folge hiervon: Zwei Männer liegen mit Kopfschüssen in einem brennenden Wohnwagen. Hier entstehen die ersten Fragen: Erschossen Sie sich selbst oder gegenseitig und zündeten selbst den Wohnwagen an? Oder gab es eine Fremdeinwirkung? Im Wohnwagen macht die Polizei einen unglaublich scheinenden Fund: Neben weiteren Waffen auch die Waffe, mit der 2007 die 22-jährige, aus Thüringen stammende Polizisten Michèle Kieseweter in Heilbronn erschossen wurde. Die beiden Uwes werden als Mitglieder des rechtsextremen „Thüringer Heimatschutzes“ identifiziert. Und sie wurden per Haftbefehl besucht: Das Trio lernt sich in den 1990er Jahren in der rechtsextremen Szene Jenas kennen, Professorensohn Uwe Mundlos und die heute 36-jährige Beate Zschäpe werden ein Paar, Bauhilfsarbeiter Uwe Böhnhardt stößt dazu. Als Neonazis experimentierten sie mit Sprengstoffen, deponierten etwa einen Koffer voll TNT im 1997 in Jena vor dem Theater – in einem Koffer mit aufgemaltem Hakenkreuz. Nur weil der Zünder versagte, blieb die Katastrophe aus. 1998 findet die Polizei das Bombenlabor von Uwe Mundlos, Uwe Bönhardt und ihrer Komplizin Beate Zschäpe. Sie überstellt den Verdächtigen offenbar sogar einen Haftbefehl, ohne die Neonazis festzusetzen – die Folge: Die drei Rechtsextremen tauchen 1998 ab – angeblich spurlos. Das erstaunt – aufgrund der Schwere der Tat, aber auch, weil der führende Kopf des „Thüringer Heimatschutzes“ V-Mann des Verfassungsschutzes war. Unklar bleibt zunächst auch, warum Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gemeinsam mit ihrer Komplizin Beate Zschäpe 2007 die junge Polizistin erschossen und ihren Kollegen ins Koma geschossen hatten: Hass auf die Polizei? Angst, dass die Thüringer Beamtin sie erkannt hätte?

Eine neue Dimension rechtsextremen Terrors

In Zwickau-Weißenborn explodiert derweil ebenfalls am Montag eine Brandbombe in einem Wohnhaus. Ein Versuch von Beate Zschäpe, Beweise zu vernichten. Die heute 36-jährige flieht zunächst, stellt sich dann am Dienstag der Polizei – und schweigt seitdem. Angeblich, um eine Kronzeugenregelung für sich auszuhandeln.

In Zschäpes teilzerstörter Wohnung, in der auch Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt unter anderen Namen ihren festen Wohnsitz hatten, finden die Polizei aber doch noch so Einiges: Unter anderem vier zynisch gestaltete DVDs, auf der sich die drei Neonazis als eine Gruppierung namens „Nationalsozialistischer Untergrund“ bezeichnen, die weitere Neonazis schulen will – ein „Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz Taten statt Worte“. Auf dem Video präsentieren sie ihre Taten: Dazu gehört nicht nur der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007, sondern auch neun Morde aus den Jahren 2000 bis 2006, über die damals in der Presse als „Döner-Morde“ berichtet wurde, weil mehrere der türkisch- und griechischstämmigen Opfer Döner-Läden betrieben hatten. Damals mutmaßten Polizei und Öffentlichkeit über Mafia-Strukturen. Jetzt wird klar: Es handelte sich um rassistisch motivierte, eiskalt geplante Taten des Neonazi-Trios. Die passende Tatwaffe findet die Polizei ebenfalls in der Zwickauer Wohnung. Dies stellt – in Planung, Kaltblütigkeit, Brutalität und Masse der bundesweit verübten Taten – eine neue Qualität rechtsextremer Gewalt dar, die als Rechtsterrorismus bezeichnet werden kann. Zumal die Uwes und Beate auch im Verdacht stehen, noch für weitere bisher unaufgeklärte Anschläge in Frage zu kommen. Auf den DVDs brüsten sie sich auch des Nagelbombenanschlages 2004 in Köln, bei dem 22 Menschen verletzt wurden – die meisten mit Migrationshintergrund.

Warum wussten die Ermittler nichts?

Nach Medienberichten fanden die Ermittler allerdings noch weitere beunruhigende Dinge: Etwa „legale illegale Papiere“, wie sie eigentlich nur Menschen erhalten, die für den Geheimdienst arbeiten. Dies nährt die Fragen, die sich schon stellten als es um das zehnjährige Abtauchen der Täter ging: Wie viel wusste der Thüringer Verfassungsschutz von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe und ihren Taten? Zumal es in der rechtsextremen Szene als „offenes Geheimnis“ gegolten haben soll, dass das rechtsmilitante Trio in Sachsen sesshaft sei. Sind hier die Menschen, die den Staat schützen sollen, also unfähig und ahnunglos? Und das, obwohl sie vom Staat bezahlte V-Männer in der Szene hatten? Der V-Mann will seinen Auftraggebern laut Medienberichten von der Flucht und von Untertauch-Plänen des Trios berichtet haben. Wurde hier also am Ende gar Wissen verschwiegen? Um eigene Schuld zu vertuschen? Haben staatliche Stellen wie der Verfassungsschutz dazu beigetragen, dass drei militante Neonazis 13 Jahre lang untertauchen, morden und Banken überfallen konnte? Diese Fragen stellt inzwischen auch die Politik in Thüringen und bundesweit. In Thüringen soll nun eine unabhängige Kommission das mögliche Versagen von Polizei und Verfassungsschutz aufarbeiten – oder gar eine Verstrickung des Nachrichtendienstes des Landes, den nicht nur Linke sondern selbst Politiker der Union nicht mehr ausschließen wollen.

Zu den Fragen, die ebenfalls noch offen sind, zählt die nach weiteren Komplizen des Trios – ohne die so ein langjähriges Leben mit falschen Identitäten und Papieren kaum möglich sein dürfte. Am Sonntag, den 13.11.2011, wurde als möglicher Komplize der 37-jährige Holger G. in der Nähe von Hannover verhaftet, der ebenfalls zur rechtsextremen Szene gehörte. Bisher schweigen die Verhafteten.

Folgen für die politische Landschaft

Spannend dürfte werden, welche die Folgen die Entdeckung dieses rechtsextremen Terror-Trios nach sich ziehen wird. Bisher war die aktuelle Bundesregierung bemüht, Rechtsextremismus als nicht mehr so relevant und dafür Linksextremismus als ein drängenderes und unbeachtetes Problem darzustellen – wobei Sachbeschädigungen das Schlimmste waren, was selbst der Staat hier an „Widerstand gegen die Demokratie“ zu verzeichnen hatte. Während Innenminister Hans-Peter Friedrich von „Rechtsterrorismus“ spricht, fand Bundeskanzlerin Angela Merkel leider nur politisch gefärbte und verwässernde Worte, als sie über die unfassbaren und offenbar längst noch nicht komplett erfassten Taten der Neonazis sprach: Sie warnte, man müsse wachsam sein gegen „Extremismus“, fügte aber immerhin hinzu „in diesem Fall gegen Extremismus von rechtsextremer Seite“ . Die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von V-Männern und V-Frauen dürfte durch diesen Fall grundlegend erschüttert sein – ebenso wie das Vertrauen in die Wirksamkeit des Verfassungsschutzes insgesamt. Interessant allerdings, dass wie immer reflexhaft Forderungen nach einem NPD-Verbot laut werden. Die hat im aktuellen Fall – nach dem bisherigen Ermittlungsstand – mit den Taten von Uwe Bönhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe nichts als die ideologische Grundlage gemeinsam.

Die Mordes des rechtsmilitanten Trios:

9. September 2000
Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg

13. Juni 2001
Schneider Abdurrahim Özüdogru in Nürnberg

27. Juni 2001
Gemüsehändler Süleyman Tasköprü in Hamburg

29. August 2001
Gemüsehändler Habil Kilic in München

25. Februar 2004
Dönerverkäufer Yunus Turgut in Rostock

9. Juni 2005
Dönerbudenbesitzer Ismail Yasar in Nürnberg

15. Juni 2005
Theodoros Boulgarides, Mitinhaber eines Schlüsseldienstes, in München

4. April 2006
Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in Dortmund

6. April 2006
Halit Yozgat, Betreiber eines Internetcafés, in Kassel

25. April 2007
Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn

Die Banküberfälle:

Zwischen 1999 und 2011:

3 Überfälle in Zwickau

7 Überfälle in der Region Chemnitz

2 Überfälle in Stralsund

1 Überfall in Arndstadt

1 Überfall in Eisenach

Weitere Taten, für die die Zwickauer Zelle verdächtigt wird:

– Dezember 1998: Sprengstoffanschlag auf das Grab Heinz Galinskis in Berlin

– März 1999: Sprengstoffanschlag auf Wehrmachtsausstellung in Saarbrücken

– Juli 2000: Sprengstoffanschlag auf jüdische Aussiedler in Düsseldorf

– März 2002: Sprengstoffanschlag auf den Jüdischen Friedhof in Berlin

– Juni 2004: Anschlag mit Nagelbombe in Köln

Mehr im Internet:

13.11.2011: taz, Tagesspiegel (auch Kommentar), Spiegel online, Publikative, Störungsmelder, Welt

Update 14.11.2011, 22 Uhr

Wird aus dem Terror-Trio ein Quartett?
Die Bundesanwaltschaft hat nun einen Haftbefehl gegen den gestern festgenommenen Holger G. erlassen – wegen Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (Spiegel online).

Spiegel online zeigt Auszüge aus dem NSU-Bekenner-Video.

Weitere Taten
Die Terrorgruppe ?Nationalsozialistischer Untergrund? (NSU) hat womöglich im Januar 2001 einen weiteren Sprengstoffanschlag in Köln verübt, bei dem eine 19 Jahre iranischstämmige Frau schwer verletzt wurde. Die Bundesanwaltschaft ermittelt weiter ?intensiv im Umfeld? der Zwickauer Zelle – auch im Hinblick auf weitere Taten (F.A.Z.).

Derweil hat die Bundesanwaltschaft offiziell Ermittlungen gegen die NSU wegen des Anschlags mit einer Nagelbombe in Köln aufgenommen. Das bestätigte ein Sprecher der Behörde am Montag in Karlsruhe dem Hamburger Abendblatt.

Welche nicht aufgeklärte Verbrechen derzeit überprüft werden, listet Bild.de auf.

Versagender Verfassungsschutz
Bei den vielen offenen Fragen rund um die rechtsextreme Terrorgruppe NSU ist wohl die drängendste, weil überraschendste: Wie verstrickt ist der Verfassungsschutz in die rechtsextreme Mord- und Anschlagsserie?

Spiegel online spricht noch von einem „Versager-Verdacht“ gegen den Verfassungsschutz und listet Pannen der vergangenen Jahre auf.

Der Jenaer Jugendpfarrer Lothar König berichtet dem Hamburger Abendblatt, dass das Untertauchen der Neonazis in Sachsen in Ermittlerkreisen ein „offenes Geheimnis“ gewesen sei. Die drei Neonazis seien mit dem damaligen „Thüringer Heimatschutzbund? und den „freien Kameradschaften? eng verwoben gewesen. Auf das Konto der Vereinigungen seien damals allein in Thüringen pro Monat bis zu drei Überfälle gegangen. Vor diesem Hintergrund sei ihm völlig unverständlich, weshalb das Landeskriminalamt 1998 die Freilassung der Tatverdächtigen durchgesetzt habe, sagte Pfarrer König unter Berufung auf „glaubhafte Informationen?. Er sei überzeugt, dass die Neonazis in den 90er Jahren beim Aufbau ihrer Strukturen durch eingeschleuste V-Leute „im wesentlichen vom Verfassungsschutz profitiert? haben.

F.A.Z.-Informationen zufolge war in einen der Anschläge der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) auf ausländische Kleinunternehmer möglicherweise ein Beamter des hessischen Verfassungsschutzes involviert. Der Verfassungsschützer soll sich entgegen bisheriger Annahmen zum Zeitpunkt des Mordes an einem Internetcafébetreiber aus Kassel am 6. April 2006 am Tatort aufgehalten haben. Das Opfer des Anschlags war der 21 Jahre alte Halit Yozgat. Der Verfassungsschützer ist inzwischen vom Dienst suspendiert.

Auf Bild.de erzählt die Tochter eines Opfers, dass die Polizei nach der Tat den Neonazi-Verdacht der Familie nie ernst genommen hat – und wie sehr die Familie belastet hat, dass die Polizei dem Familienvater Kontakte ins Drogen- oder Mafia-Milieu nachweisen konnte.

Gegen die üble Realität – böse Satire
Der Postillon formuliert seine Kritik als Satire. Auszug: „Auch Familienministerin Kristina Schröder (CDU) ist immer noch perplex: „Ich habe den Nazis so sehr vertraut, dass ich den Etat, der vornehmlich zur Bekämpfung von Rechtsextremismus dient, erst kürzlich um zwei Millionen gekürzt habe. Wer konnte ahnen, dass unter Nazis Ausländerfeindlichkeit verbreitet ist? Ich jedenfalls habe noch nie von diesem Phänomen gehört, aber das scheint so etwas ähnliches zu sein wie die Deutschenfeindlichkeit, vor der ich seit Jahren warne, ? nur gegen Ausländer.“

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