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Monatsüberblick November 2016 Antisemitismus

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Manchmal hilft nur Humor: Die "Freien Kräfte Berlin-Neukölln (FKBN)” veröffentlichten zum 9. November eine Berlin-Karte mit markierten jüdischen Einrichtungen - Shahak Shapira deutet sich um und feiert sie: "Juden brauchen sich in Deutschland nicht mehr zu verstecken. (Quelle: Screenshot Facebook)

 

Zusammengestellt von Simone Rafael

 

Antisemitismus an der HAWK-Hochschule in Hildesheim: Präsidentin tritt zurück, Gutachten rügt Nahost-Seminar

Nach Antisemitismus-Vorwürfen gegen die Hildesheimer Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst zieht sich Präsidentin Christiane Dienel aus der Führung zurück. Zuvor hatte der Senat der Hochschule beschlossen, Dienel nicht länger für eine zweite Amtszeit als Präsidentin zu empfehlen. Die jüdische Gemeinschaft hatte sich über ein Hochschulseminar wegen antiisraelischer Tendenzen beschwert, die Kritik war aber zunächst lange Zeit ungehört verhallt. Hochschulpräsidentin Dienel teilte in einer persönlichen Erklärung am Mittwochabend mit, sie habe sich um eine Versachlichung der Auseinandersetzung bemüht, die „zunehmend emotional entglitten“ und von schlimmsten Formen der Diffamierung begleitet gewesen sei. Teile der Hochschule hätten den Konflikt auf sie fokussiert, um ihre eigene Verantwortung zu leugnen. Dienel hatte zuletzt unter anderem erklärt, der betroffenen Fakultät habe es an Gespür im Umgang mit dem umstrittenen Seminar und bei der Auswahl der Dozenten gemangelt. Außerdem habe die Fakultät sie nicht angemessen und vollständig informiert. (tazFR). Wenige Tage später wird ein Gutachten zu dem umstrittenen Seminar veröffentlicht: Das wegen Antisemitismus-Vorwürfen in die Diskussion geratene Nahost-Seminar an der Hildesheimer Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) war unwissenschaftlich, einseitig und nicht tragbar. Zu diesem Schluss kommt die Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Stefanie Schüler-Springorum. Am Montag stellte sie in Hannover ein Gutachten vor, das vom niedersächsische Wissenschaftsministerium in Auftrag gegeben wurde (FR).

 

„Reichsbürger“ imaginieren antideutsche Weltverschwörung durch „jüdische Eliten“ 

Seit dem 19. Oktober wird in Deutschland eingehender über sogenannte »Reichsbürger« berichtet. Wolfgang P. schoss an diesem Tag auf mehrere Polizisten des SEK. Ein Beamter erlag am folgenden Tag seinen Verletzungen. Zentral für die Reichsbürgerideologie sind antisemitische Verschwörungsmythen. Vielerorts wird geschrieben, dass »Reichsbürger« die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen und von der Fortexistenz des Deutsches Reichs in den Grenzen von 1937 ausgingen. Diese Kategorisierung erfasst jedoch nicht den Kern der Ideologie. Sie beruht vielmehr auf einer gesellschaftlich anschlussfähigen und antisemi­tischen Erzählung, derzufolge es seit langem eine Weltverschwörung gegen die Deutschen gäbe. Dabei handelt es sich um eine Form von antisemitischer Umwegkommunikation. Mögen einige der Überzeugung sein, dass wirklich die USA oder eine kleine Gruppe interreligiöser Eliten im Verborgenen die Neue Weltordnung (NWO) durchsetzen wollen, so basieren moderne Weltverschwörungserzählungen meist auf der antisemitischen Fiktion der »Protokolle der Weisen von Zion«. Die vermeintlichen Protokolle vereinen antijudaistische Stereotype mit denen des modernen Antise­mitismus. »Die Juden« werden seit Jahrhunderten als Verschwörer gegen Christentum und Volk imaginiert: Ihnen wird unterstellt, zum Zwecke des Machterwerbs und -erhalts zu töten und zu vergiften. Sie werden für Liberalismus, Kommunismus und Menschenrechte sowie die großen Revolutionen, Kriege und Naturkatas­trophen verantwortlich gemacht. Diese den Weltverschwörern zugeschriebenen Eigenschaften sind im tradierten Judenbild bereits angelegt. Auf diese Weise können Weltverschwörungserzählungen in letzter Instanz stets »die Juden« als Verantwortliche benennen (JW).

 

9. November: Antisemitismus gefährdet den Fortschritt 

Das Wetter dieses Monats mag schicksalhaft sein oder ein furchtbarer Unfall, für den niemand etwas kann, eine plötzliche Krankheit vielleicht auch – aber der 9. November ist es keineswegs. Weder die Maueröffnung 1989 noch die antisemitischen Pogrome 1938 kamen über das Land wie eine Naturkatastrophe. Beides hatte menschengemachte Ursachen. Beides prägt den November. Doch in der Wahrnehmung unterscheiden sich diese Anlässe gründlich. So sehr wie die Maueröffnung gefeiert wird als ein Akt der deutschen Selbstbefreiung, so wenig gilt die Pogromnacht als etwas, dessen Kern bis heute existiert. Ich weiss nicht, ob dieser Kern der Antisemitismus oder die Verschwörungstheorie ist. Beides gehört gewiss zusammen. Der alte wie der neue Antisemitismus haben den Verschwörungsmythos als zentrale Figur. Das eine ohne das andere funktioniert nicht. Mag sein, dass es Verschwörungsideologien gibt, die nicht antisemitisch sind. Das ist jedoch selten der Fall, denn es liegt in der Natur solcher Ideologien, dass sie die Schuld an etwas da suchen, wo sie Macht, Einfluss und Geld vermuten. Also bei den Juden, die auch in ihrer politischen Interpretation mal Zionisten und mal Imperialisten genannt werden – je nachdem inwieweit die Vorstellung von solchen „Akteuren“ in irrationaler Weise für alles Übel der Welt in Haftung genommen werden (Anetta Kahane auf mut-gegen-rechte-gewalt.de). 

Antisemitismus ist nicht nur eine Gefahr für Jüdinnen und Juden 

Mitschrift der Rede von Rabbi Lord Jonathan Sacks bei der Konferenz „The Future of the Jewish Communities in Europe“: Der Hass, der mit den Juden beginnt, hört niemals bei den Juden auf. Ich möchte, dass wir das heute verstehen. Es waren nicht nur die Juden, die unter Hitler litten. Es waren nicht nur die Juden, die unter Stalin litten. Es sind nicht nur die Juden, die unter dem IS, Al-Qaida oder dem Islamischen Dschihad leiden. Wir machen einen großen Fehler, wenn wir denken, Antisemitismus sei nur eine Gefahr für Juden. In erster Linie ist er eine Gefahr für Europa und die Freiheiten, die wir im Laufe der letzten Jahrhunderte errungen haben. Beim Antisemitismus geht es nicht um Juden, sondern um Antisemiten (juedischerundschau.de).

http://juedischerundschau.de/das-mutierende-virus-antisemitismus-verstehen-135910621/

 

Shahak Shapira will über Antisemitismus und Rassismus aufklären 

„Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen: Wie ich der deutscheste Jude der Welt wurde“ heißt das Buch von Shahak Shapira. Darin beschreibt der 28-Jährige Israeli sein Leben in Berlin und seine Erfahrungen mit Antisemitismus (Badische Zeitung). Aktuell macht Shapira auch viele gute Social Media-Aktionen: So reagierte er etwa auf eine Karte mit Adressen jüdischer Einrichtungen, die Neonazis zum 9. November verbreiteten, mit selbstbewusster Satire: Auf seiner Facebook-Seite verbreitete der 28-Jährige am Donnerstagabend eine leicht veränderte Version des antisemitischen Machwerks, das mit „Juden unter uns!“ betitelt ist. Neben den aufgelisteten jüdischen Gemeinden, Restaurants und anderen Einrichtungen stehen nun Werbeslogans wie „Tinder für Juden“, oder „Geiles Essen“. Seine Follower fordert er auf, die Karte zu teilen. Shapira verweist darauf, dass die Adressen auf der Nazi-Karte ohnehin leicht im Netz zu finden seien – denn Juden müssten sich in Deutschland ja nicht mehr verstecken (Morgenpost).

 

Urteil: taz gewinnt gegen Ken Jebsen und darf sagen, dass er wegen antisemitischer Äußerungen entlassen wurde 

Die taz darf auch zukünftig schreiben: „Auch Ken Jebsen, nach antisemitischen Äußerungen beim Sender rbb rausgeflogen […]“. Das hat am 10.11.2016 das Oberlandesgericht Köln entschieden. In einem Artikel über die „Neurechte Friedensbewegung“ und deren Demonstrationen im Berliner Regierungsviertel am 13.03.2015 (Neurechte Friedensbewegung – Tausend Mal berührt) hatte die taz geschrieben: „Auch Ken Jebsen, nach antisemitischen Äußerungen beim Sender RBB rausgeflogen, deklamiert sich immer wieder als frei von rechtem Gedankengut. Doch am 16. Februar bestritt er beim Interview mit dem Ex-CDU-Bundestagsabgeordneten Willy Wimmer die „Alleinschuld der Deutschen für den Ersten Weltkrieg, für den Zweiten sowieso“. Kurz darauf verlinkte er einen Text der Israelgegnerin Evelyn Hecht-Galinski, Titel: „Nicht die Kippa ist das Problem, sondern der Kopf darunter!“ Auf Antrag von Jebsen verbot das Landgericht Köln der taz zunächst die unterstrichene Äußerung. In dem sich anschließenden Klageverfahren argumentierte die taz, dass sie die Äußerungen von Ken Jebsen zulässig als antisemitisch bewerten durfte und dass der in der Formulierung liegende zeitliche und kausale Zusammenhang zwischen Beendigung der Moderatorentätigkeit und der als antisemitisch bewerteten Äußerung wahr sei. Das Landgericht Köln schloß sich schließlich dieser Argumentation dem an. Das OLG, das Jebsen daraufhin angerufen hatte, teilte in einer mündlichen Erörterung der Sache am 10.11.2016 mit, dass die taz die Äußerungen von Jebsen als antisemitisch bewerten durfte (taz). 

Österreich: FPÖ-Engagement gegen Antisemitismus vs. antisemitische Postings auf Facebook-Seite von Norbert Hofer

Die FPÖ beschäftigte sich Montagabend mit Antisemitismus. Neben Parteichef Heinz-Christian Strache und Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer redeten und diskutierten auch zwei ehemalige israelische Politiker über das Thema „Haben wir aus der Geschichte gelernt? Neuer Antisemitismus in Europa“. Als Anlass für die Veranstaltung nannte die FPÖ den Novemberpogrom 1938, den die Nazis zynisch als „Reichskristallnacht“ bezeichneten. Kritik Bereits im Vorfeld der Veranstaltung gab es Kritik von Teilen der jüdischen Community, SPÖ und den Grünen. „Die plötzlichen Reinwaschungsversuche der tief antisemitisch geprägten FPÖ sind peinlich und unglaubwürdig“, sagt der Grünen-Abgeordnete Harald Walser. „Der Titel der FPÖ-Veranstaltung kann eindeutig mit Nein beantwortet werden, denn wieder werden auf der Facebook-Seite von Norbert Hofer antisemitische Inhalte gepostet, indem etwa mit Hinweis auf Fischers Teilnahme an Bilderberger-Treffen die Frau von Heinz Fischer als ‚Jewish‘ bezeichnet wird und zudem auf eine klar antisemitische Website verlinkt wird.“ (Der Standard)

 

Herbstsynode der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland: Kirchenparlament verurteilt Luthers Judenfeindlichkeit 

Die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands (EKM) distanziert sich von Martin Luthers Judenfeindlichkeit. Zum Abschluss der viertägigen Herbstsynode in Erfurt beschloss das Kirchenparlament mit großer Mehrheit ein entsprechendes Papier. Es geht darin auch um eine Mitschuld von Protestanten an der Ausgrenzung und Vernichtung jüdischen Lebens. Vorausgegangen war eine intensive Debatte.In dem Papier heißt es: „Wir bekennen Schuld und Versagen in unseren Kirchen und im deutschen Protestantismus, wo theologisch motivierte Judenfeindschaft bis in die jüngste Zeit weitergetragen und tradiert wurde, als sei sie Teil des Evangeliums.“ (mdr

München: Antisemitismus-Streit vor Gericht – wann ist jemand ein „berüchtigter Antisemit“?

Durfte Charlotte Knobloch behaupten, der jüdische Publizist Abraham Melzer sei „für seine antisemitischen Äußerungen regelrecht berüchtigt“? Diese Frage klärte jetzt das Landgericht München I. Melzer will die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde per einstweiliger Verfügung zwingen, die Behauptung zu unterlassen. Und tatsächlich kam er damit durch: Die von Knobloch vorgelegten Belege antisemitischer Äußerungen Melzers genügten dem Gericht nicht. Knobloch hat allerdings Rechtsmittel gegen das Urteil angekündigt (SueddeutscheII)

 

Martin Hohmann will zurück: Ex-CDU-Mann kandidiert für die AfD um den Einzug in den Bundestag 

Mit einem Abgeordneten Martin Hohmann möchte die AfD im nächsten Bundestag vertreten sein. Der frühere CDU-Politiker, der wegen Äußerungen, die Juden seien ein »Tätervolk«, 2003 ausgeschlossen wurde, kandidiert auf Platz vier der hessischen Landesliste. Der 68-jährige Hohmann ist optimistisch, dass er bald wieder in Berlin wirken kann. »Ich sehe gute Chancen für mich«, wird er in Zeitungen zitiert. Er begründet seine Einschätzung nicht nur mit den Umfragewerten der AfD, sondern auch mit den politischen Entwicklungen in den USA, Österreich und Frankreich. »Ich hoffe, dass auch hier den herrschenden Parteien eine Absage erteilt wird.« Der nach Selbsteinschätzung »patriotische Konservative« hatte erst jüngst zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung gesagt, »eine Volksgemeinschaft muss wissen, wer dazugehört und wer nicht«. In der Fuldaer Kommunalpolitik mischt Hohmann schon eine Weile für die AfD mit (Jüdische Allgemeine).

 

Antisemitische Hetze beim Brandenburg Derby

Erstmals trafen die Vereine FC Energie Cottbus und SV Babelsberg 03 in einem Liga-Spiel aufeinander. Nicht nur wegen der geographischen Nähe hatte dieses Spiel eine besondere Bedeutung, denn die beiden Fankurven tragen vor allem einen politischen Konflikt aus. Die als antifaschistisch geltende Fanszene des SV Babelsberg 03 wurde am Samstag von Neonazis angegriffen und mit antisemitischen Parolen belegt. Neonazis aus der Region und darüber hinaus waren angereist, um sich diesem Treiben anzuschließen (ZEIT)

 

Berlin: Wie ein Jude versucht, Religionen in Neukölln zu versöhnen 

Auf der Neuköllner Sonnenallee gibt es kaum ein Ladenlokal, das nicht von arabischstämmigen Besitzern betrieben wird. Hier gibt es das Schawarma-Sandwich für 1,50 Euro, Brautkleider für 100 Euro und allerlei Palästina-Kitsch vom Grabbeltisch. Juden und Israelis sind hier kaum sichtbar, aber es gibt sie. Der unschlagbar gute Hummus zieht viele von ihnen an. Der Nahost-Konflikt ist hier allgegenwärtig. Armin Langers Initiative „Salaam-Shalom“ versucht, etwas Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Als Jude, so seine These, hat man es in Neukölln auch nicht schwerer als in Charlottenburg. Für viele andere Juden ist er ein rotes Tuch. Sie werfen ihm vor, das Problem des muslimischen Antisemitismus kleinzureden. Langer provoziert gerne, spitzt zu. „Muslime sind die neuen Juden“, heißt einer seiner Artikel, der 2014 im „Tagesspiegel“ erschien. Dem Zentralrat der Juden warf er Rassismus vor, flog dafür aus dem Rabbinerseminar. Er sattelte um, auf jüdische Theologie. Rabbi will er weiterhin werden. Heute stellt er sein neues Buch vor: „Ein Jude in Neukölln“. „98 Prozent aller antisemitischen Straftaten kommen von Rechts“, sagt der 26-Jährige. Deshalb verstehe er nicht, dass so häufig auf die Gefahr des muslimischen Antisemitismus verwiesen werde. „Da muss man sich schon fragen: Welche Motive stecken dahinter?“ Vielen ginge es eher darum, Muslime zu stigmatisieren, als Juden zu schützen, vermutet er (Berliner Morgenpost). 

 

Rapper Massiv wehrt sich gegen Antisemitismus-Vorwürfe 

Auf dem Reeperbahn Festival in Hamburg haben diverse Diskussionsrunden stattgefunden. Dabei kam unter anderem auch zur Sprache, dass Massiv antisemitische Ansichten vertrete und es wurde diskutiert, wieso er nie mit diesem Vorwurf konfrontiert werde. Jetzt reagiert Massiv selbst und veröffentlicht ein ausführliches Statement zu dem Thema auf Facebook: „Wir sind alle gleich“ (hiphop.de).

 

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