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„Die vermeintliche Opferrolle der eigenen Nation“

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Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reiches in den Jahren von 1944 bis 1948 ist für Rechtsextreme ein wichtiges Thema. Sie behaupten, darüber dürfe man in Deutschland nicht reden. Wieso instrumentalisieren Rechtsextreme dieses Thema?

Manfred Kittel: Das hängt letztlich mit der irrtümlichen Vorstellung der Rechtsextremen zusammen, es gebe homogene Volksgemeinschaften. Die Rechtsextremen stellen sich eine ethnisch homogene deutsche, ?arische? Volksgemeinschaft vor, die es um jeden Preis ?rein? zu erhalten, stark zu machen oder wiederaufzurichten gelte. Offensichtlich glauben rechtsextreme Kreise, das gelinge, indem sie die vermeintliche Opferrolle der eigenen Nation stilisieren. Dieser Topos wiederholt sich in der rechtsextremen Rhetorik immer wieder: Das arme und an beiden Weltkriegen mehr oder weniger unschuldige deutsche Volk werde von der internationalen Staatengemeinschaft fortgesetzt moralisch diskriminiert und finanziell ausgebeutet, spätestens seit 1945. Vor diesem Hintergrund liefert die Debatte über die Vertreibung Argumente, die in das Opfer-Schema der Rechtsextremen passen. Bundespräsident Köhler hat einmal von der „auslösenden Ursache“ gesprochen. Diese „auslösende Ursache“ für die Vertreibung der Deutschen war nun einmal die Gewaltpolitik der Nationalsozialisten im Osten Europas während des Zweiten Weltkrieges war. Dagegen behaupten die Rechtsextremen, dass Phänomene und Entwicklungen, wie etwa der Panslawismus oder die Unterdrückung deutschsprachiger Minderheiten infolge des Versailler Vertrages letztlich zu dieser Vertreibung geführt haben. So wichtig aber diese Faktoren zum tieferen Verständnis der Vertreibungsideologie tatsächlich auch sind, so abwegig ist es, sie höher zu gewichten als die Politik der Nationalsozialisten.

Ist der Vorwurf, die Vertreibungen würden tabuisiert, denn berechtigt?

Manfred Kittel: Nein, zumindest heute kann von einer Tabuisierung des Themas nicht mehr die Rede sein. Es wird doch überall in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Man denke nur an die vielbeachteten Fernsehfilme der jüngsten Zeit, wie etwa den Zweiteiler ?Die Flucht? mit Maria Furtwängler oder allerjüngst den ZDF-Film über den Untergang der Wilhelm Gustloff; man denke an die breit rezipierte Novelle ?Im Krebsgang? von Günter Grass oder an die seit dem Jahr 2000 geführte Debatte um das von der CDU-Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach und dem Sozialdemokraten Peter Glotz maßgeblich vorangetriebene ?Zentrum gegen Vertreibungen? in Berlin. Letztere hat jetzt zu einem Kabinettsbeschluss für ein Dokumentationszentrum mitten in der deutschen Hauptstadt geführt. All das war und ist wichtig, um das Thema in der Mitte der Gesellschaft stärker zu platzieren.

An die 15 Millionen Deutsche wurden aus ihrer osteuropäischen Heimat vertrieben, viele wurden ermordet und vergewaltigt. Warum ist das Thema erst jetzt in der Mitte angekommen?

Manfred Kittel: Die sogenannte Erlebnisgeneration der Vertriebenen steht jetzt im Herbst ihres Lebens und zieht Bilanz. Viele fragen sich: ?Was hat der Verlauf meiner eigenen Biografie mit dem Umstand zu tun, dass ich vertrieben wurde?? Außerdem können die Deutschen seit 1990 mit dem Thema entspannter umgehen, weil die Grenzproblematik nicht mehr virulent ist. Durch den Zwei-Plus-Vier-Vertrag und den deutsch-polnischen Vertrag ist die territoriale Komponente dieser Problematik endlich weg. Umso ruhiger und ohne Missverständnisse auszulösen, kann man sich mit dem Thema befassen. Es gibt eben nicht mehr das Argument, man wolle bestehende Grenzen in Frage stellen, wenn man sich mit der Vertreibung der Deutschen und der Geschichte der Vertreibungsgebiete befasst. Die 1990er Jahre sind in dieser Hinsicht das Schwellenjahrzehnt, seither ist die Vertreibung gewiss kein Tabuthema mehr, wobei es eine völlige Tabuisierung in einer offenen Gesellschaft ohnehin kaum geben konnte. Richtig ist aber auch die selbstkritische Aussage des damaligen SPD-Innenministers Otto Schily von 1999: Die Deutschen, vor allem auf der politischen Linken, hätten das Thema über weite Strecken verdrängt, vor allem aus Angst davor, als Revanchisten zu gelten. Man war dem Thema vor allem im Kontext der neuen Ostpolitik der 1960er und 1970er Jahre zunehmend aus dem Weg gegangen, in der Annahme, so eher einen Ausgleich mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen.

Die NPD und rechtsextreme Kreise sehen sich gern als Deutsche in der Opferrolle. Wann wurde das Thema für die Rechtsextremen so attraktiv?

Manfred Kittel: Im Zuge der allmählich einsetzenden Entspannungspolitik seit den 1960er Jahren. 1965/66 scheiterte zunächst der Versuch des Bundesjustizministers, Ersatz für eine nicht durchsetzbare ?Zentralstelle zur Verfolgung von Vertreibungsverbrechen? zu organisieren. Leider muss man ja dazusagen, dass die Kapitalverbrechen, die sich im Rahmen der Vertreibung von 1945 hunderttausendfach ereignet hatten, bis auf ganz vereinzelte Ausnahmen juristisch nie geahndet wurden. 1969 wurde dann noch von der Großen Koalition beim Bundesarchiv eine Dokumentation der Vertreibungsverbrechen in Auftrag gegeben, aber die sozialliberale Koalition wollte 1974 die Veröffentlichung des fertig gestellten Manuskripts unterbinden. Das war eine wirklich unglückliche Entscheidung; denn rechte Kreise konnten jetzt argumentieren, dass die Vertreibung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdrängt werde, dass die Bundesregierung keine freie Meinungsäußerung wolle, weil sie sich weigere, dieses Manuskript der Öffentlichkeit zu präsentieren. In der Folgezeit gab es Publikationen am rechten Rand, die das in sehr reißerischer Form instrumentalisiert haben. Sie konnten das aber auch leider deswegen tun – das muss man einräumen -, weil die seriöse Forschung um das Thema Vertreibung lange ? bis in die 1990er Jahre hinein ? überwiegend einen großen Bogen gemacht hat. Teilweise wurde sogar das Wort Vertreibungsverbrechen nur in Anführungszeichen verwendet, um nicht in den Verdacht zu geraten, durch Beschäftigung mit dem Thema die NS-Verbrechen ?aufrechnen? zu wollen.

Weil die Deutschen, als Täter, das Gefühl hatten, sie dürften nicht von deutschen Opfern sprechen?

Manfred Kittel: Ja, da ist etwas dran. Hinzu kam, dass man ja auch nach den Ostverträgen nicht definitiv wusste, wie es um die Grenzfragen bestellt war. Schließlich gab es in den frühen 1970er Jahren ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Deutschland völkerrechtlich in den Grenzen von 1937 definierte. Wie gesagt, die 1990er Jahre waren dann das Schwellenjahrzehnt. Da fing man an, mit den wissenschaftlichen Kollegen in Polen, Tschechien, Ungarn einen unverkrampften Kontakt zu haben. Es wurden zum Beispiel auch große deutsch-polnische Projekte zur Geschichte der Vertreibung in Angriff genommen. Mit der Überwindung der Blockgegensätze und dem sich abzeichnenden Beitritt ostmitteleuropäischer Staaten zur EU hat sich damals viel verändert.

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