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Hessen 2014 Mögliche rechtsextreme Morde im Wohnungslosenmilieu und durch Burschenschaftler

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Antifaschistische Demonstration gegen rassistische Übergriffe in Dautphetal: Anfang des Jahres stürmten vier Männer eine Flüchtlingsunterkunft im nahen Wohra. (Quelle: flickr/ cc/ Caruso Pinguin)

Am Morgen des 12 Oktobers wurde ein 20-jähriger Erstsemester der Sozialwissenschaften in Marburg von einem 26-jährigen Mitglied der pflichtschlagenden Landsmannschaft „Nibelungia“ mit einem Klappmesser erstochen. Zuvor waren beide auf einer Erstsemesterparty in Streit geraten. Medienberichten zu folge soll der 20-jährige dem späteren Täter das Einstecktuch geklaut haben, dass diesen als Verbindungsmitglied auswies. Es ist also möglich, dass verletzter Stolz des Verbindungsmitglieds der Auslöser für die tödliche Auseinandersetzung war, Polizei und Staatsanwaltschaft halten sich hierzu allerdings bedeckt.

Burschenschaften weiter aktiv

In Marburg liegt darüber hinaus der Sitz der Burschenschaft Germania, aus der viele Mitglieder schon seit Jahren durch Kontakte zu Neonazis aufgefallen sind und die häufig rechte Veranstaltungen wie „neurechte“ Vorträgen oder Fackelmärschen organisiert. Die Burschenschaft stellte regelmäßig Räume für neonazistischen Aktivitäten und Veranstaltungen. Die Antifa Marburg und der Blog „Naziwatchblog“ haben fünf Mitglieder der Burschenschaft Germania Marburg als Neonazi-Aktivisten geoutet. Eine Demonstration gegen die so bezeichnete „Nazivilla Germania“ ist für den 31.01.2015 in Marburg geplant.

Mord an Wohnungslosem: Rechtsextremer Hintergrund vermutet

Wenig ist bekannt über das, was sich in der Nacht zum 23.10.2014 in einer städtischen Unterkunft für Wohnungslose im hessischen Limburg abgespielt hat. In der Gemeinschaftsküche der Einrichtung schlugen und traten drei Täter abwechselnd so lange auf einen Mann aus Ruanda ein, dass dieser wenig später an seinen inneren Blutungen starb. Drei Tatverdächtige, zwischen 22 und 43 Jahren, konnten schnell ermittelt werden. Einer von ihnen beging in Untersuchungshaft Selbstmord. Polizei und Staatsanwaltschaft kommunizierten schon am Anfang der Ermittlungen, dass es klare Anhaltspunkte für eine rassistische Motivation der Täter gebe. Woran genau sich dies festmacht, ob die Täter womöglich Kontakte in die organisierte Neonaziszene haben, ist nicht bekannt. Kürzlich sickerte aber durch, dass zumindest zwei der Täter am Tag der Tat beim Zeigen des Hitlergrußes fotografiert wurden. Noch weniger als über die Geschehnisse in Limburg weiß man in der Öffentlichkeit allerdings über das Opfer der Mordtat: Nur sein Alter und seine Nationalität sind bekannt: 55 Jahre alt, aus Ruanda.

Rechtes Parteienwesen

Die Partei „Die Rechte“ hat ihre Aktivitäten in Hessen weitestgehend eingestellt. Mitte März verkündete die Kleinstpartei, die sich in Hessen seit 2012 um den ehemaligen NPD-Politiker Pierre Levien aus der Wetterau gesammelt hatte, sich der Szene der Freien Kameradschaften anschließen zu wollen.Dafür war dieses Jahr die Partei „Der III. Weg“ in kleineren Orten wie Eschwege und im Werra-Meißner-Kreis aktiv. Dort wurden mehrmals Flugblätter verteilt, die sich gegen Flüchtlinge und Unterkünfte für diese richtet. Auch Sticker wurden verklebt, jedoch zum Großteil wieder von antifaschistischen Gruppen verdeckt. Die Neonazis versuchen anscheinend, ebenfalls auf den „Anti-Flüchtlingszug“ aufzuspringen und rassistische Meinungsmache zu betreiben, um in Nordhessen Fuß zu fassen. Die NPD ist die stärkste rechtsextreme Partei Hessens, ihr Landesvorsitzender Daniel Knebel. Er wohnt in einer Wohngemeinschaft mit Stefan Jagsch, derzeit stellvertretender Landesvorsitzender in Hessen. Außerdem ist Jagsch für die NPD Landesorganisationsleiter des Bundeslandes Hessen.

Stefan Jagsch und seine Klage gegen die Stadt Frankfurt

Jagsch arbeitete bis 2014 als städtischer Angestellter im Jobcenter Frankfurt-Höchst am Empfangsschalter. Im Mai 2014 machte das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen die Stadt auf die Mitgliedschaft in der rechtsextremen Partei NPD aufmerksam, woraufhin Jagsch vom Dienst freigestellt wurde. Nach Protesten vor dem Jobcenter kündigte man ihm im Juni 2014 mit folgender Begründung der Stadt: „Der Betreffende ist hochrangiger Funktionär der NPD und steht für deren Ideologie und Ziele, die sich mit ihrer fremdenfeindlichen, rassistischen Programmatik nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung bewegen“. Es wurden durch verschiedene Organisationen die mögliche Benachteiligung von Migrant_innen durch Jagsch und sein Zugriff auf sensible Daten kritisiert. Jagsch klagte gegen die Kündigung.

Er argumentierte, dass er kein „Extremist“ und auch kein Verfassungsfeind sei. Er habe kein gestörtes Verhältnis zum Staat und zur Verfassung und habe nie dazu geneigt und dies auch nicht getan, den Staat, die Verfassung oder deren Organe zu beschimpfen oder verächtlich zu machen. Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main gab ihm Recht und bezeichnete somit die Kündigung als verfassungswidrig. Jagsch selbst rechnet sich bei einer erneuten Klage der Stadt Frankfurt auch auf höheren Instanzen große Chancen aus, wieder zu gewinnen.

Hetze gegen Flüchtlinge und Wahlkampf

Wie auch alle anderen rechten Parteien, versucht die NPD gezielt durch rassistische und fremdenfeindliche Aktionen an die Ängste und Vorurteile rechtsgesinnter Bürger_innen anzuknüpfen und so die Stimmung in Hessen massiv zu beeinflussen. Auf der diesjährigen Weihnachtsfeier der NPD wurde beschlossen, in den nächsten Monaten 300.000 Flyer mit der Aufschrift „Asylsturm stoppen – Scheinasylanten ausweisen“ zu verteilen. Stark ist die NPD im Vogelsbergkreis und in der Wetterau, wo die Spitzenfunktionäre Knebel und Jagsch leben. Insgesamt hat sie in Hessen momentan rund 280 Mitglieder. Anlässlich der Europawahlen 2014 verteilte die NPD Flyer und besonders im Wetteraukreis wurde massiv plakatiert. Außerdem veranstaltete die NPD ein Rechtsrock-Konzert mit 30 Teilnehmenden in einem Landgasthof in Büdingen-Orleshausen mit einer Ansprache eines bayerischen NPD-Kaders.

Weitere Aufmerksamkeit erregte die rechte Partei NPD dieses Jahr mit ihrer Klage gegen den Oberbürgermeister Hanaus, Klaus Kaminsky. Dieser hatte sich bei einer Demonstration gegen eine NPD-Kundgebung in seiner Rede klar gegen die NPD und Neonazis geäußert. Im Juli dieses Jahres wurde die Klage der NPD zunächst abgewiesen, im November hingegen beschloss der hessische Verwaltungsgerichthof in Kassel, dass Teile der auf der Homepage der SPD veröffentlichten Rede gestrichen werden müssen. Dazu gehört die Passage, in Hanau sei „kein Platz für Nazis“.

„KaGiDa“

Das Pegida-Konzept fand auch in Hessen 2014 Anklang: „KaGiDa“ nennt sich das islamfeindliche Bündnis in Kassel. Es fanden davon bisher drei Versammlungen statt, zu denen jeweils nur rund 80 Teilnehmer_innen kamen. Bei der ersten Versammlung am 01.12.2014, die übrigens ohne Demonstrationszug stattfand, kamen auch hochrangige NPD-Mitglieder wie Stefan Jagsch und Daniel Lachmann, ebenfalls stellvertretender Landesvorsitzender der Partei NPD. Der ersten KaGiDa-Versammlung stellten sich 500 Gegendemonstrant_innnen entgegen. Der Anmelder und Organisator der Demonstration soll Michael Viehmann sein. Er hat Antifa-Recherchen zufolge seinen Job verloren, als bekannt wurde, dass er maßgeblich an der Organisation der Anreise aus Kassel zu den HoGeSa-Aufmärschen in Köln und Hannover beteiligt gewesen sein soll. Auch in Frankfurt versucht sichein an PEGIDA orientiertes Bündnis zu organisieren, bis zum 18.12.2014 lagen der Stadt aber noch keine Versammlungsanmeldungen von FraGIDA vor.

Aufklärung des NSU

Als eines der letzten Bundesländer richtete Hessen im Mai 2014 einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der NSU-Mordserie ein. Der Ausschuss soll vor allem den Mord des Internetcafébetreibers Halit Yozgat 2006 durch den NSU, und die Ermittlungen der Sicherheitsdienste hierzu aufarbeiten. Zur Tatzeit des Mordes an Yozgat war ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes am Tatort, der aus Sicht der Polizei zunächst verdächtig war. Die Ermittlungen gegen ihn wurden aber eingestellt.

Kameradschaftsszene – „Sturm 18 Cassel“ als offizieller Verein

In den Fokus der Aufmerksamkeit geriet im Juli dieses Jahres die rechtsextreme Kameradschaft „Sturm 18 Cassel“. Das hessische Innenministerium prüft derzeit ein Verbot der Gruppierung, die sich dieses Jahr als offizieller Verein eintragen ließ. Vereinssymbol ist ein Reichsadler in der Fassung aus dem Dritten Reich. Der Gründer der Kameradschaft, Bernd Tödter, ist bereits mehrfach wegen rechtsextremer Aktivitäten aufgefallen und sitzt derzeit wegen Verdachts der Vergewaltigung einer 16-Jährigen und zweifacher gefährlicher Körperverletzung in Untersuchungshaft. 1993 hatte er mit einem Kameraden einen Obdachlosen zu Tode geprügelt. Im Gefängnis ließ er sich von der als inzwischen verfassungsfeindlich eingestuften und 2011 verbotenen „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V.“ (HNG) betreuen. Außerdem gründete er aus dem Gefängnis heraus die rechtsextreme „AD Jail Crew (14er)“ am 20.04.2012 (Adolf Hitlers Geburtstag), woraufhin die Staatsanwaltschaft Frankfurt ein Ermittlungsverfahren einleitete, unter anderem wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Mitglieder des „Freien Netzes Hessen“, das der Kameradschaftsszene zugeordnet wird, nahmen an der HoGeSa- Demonstration in Köln teil. Ebenso Jörg Krebs, NPD-Stadtverordneter in Frankfurt, der die Aktivitäten der HoGeSa im Nachhinein via Twitter lobte.

Übergriffe, Gewalttaten, Veranstaltungen

Am 12.01.2014 stürmten vier junge Männer die Unterkunft für Asylsuchende in Wohra im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Sie traten Türen und Fenster ein, beschädigten die Fassade, riefen rechte Parolen und bedrohten die Bewohner_Innen über eine halbe Stunde. Eine Schwangere wurde wegen der Aufregung vorsorglich in einem Krankenhaus behandelt. In dem Heim leben etwa 50 Menschen. Die Jugendlichen bestritten eine rechtsradikale Motivation , allerdings haben die Ermittler den Verdacht, dass mindestens einer der vier bei einem rechten Vorfall im Dezember 2013 dabei war. Er soll in einem Auto gesessen zu haben, aus dem beim Vorbeifahren an der Flüchtlingsunterkunft „verfassungsfeindliche Parolen“ gerufen wurden. Im November war im mittelhessischen Friedberg eine Gruppe von 10-15 Neonazis unterwegs, die Passant_innen, die der Gruppe als „Linke“ oder Migrant_innen erschienen, tätlich angriff und beschimpfte. Immer wieder ereigneten sich dieses Jahr in Hessen solche Vorfälle, ob tätliche Angriffe, die Beschädigung von Flüchtlingsunterkünften oder Gebäuden, in denen Flüchtlinge untergebracht werden sollen. Außerdem wurden Informationsveranstaltungen über die Aufnahme von Flüchtlingen von Neonazis oder NPD-Mitgliedern, beispielsweise im November in Wetzlar, gestört. Häufig wurden dieses Jahr rechtsextreme Schmierereien entdeckt. Heraus sticht ein Anschlag auf das Autonome Schwulenreferat der Universität Kassel Anfang Januar: Der Eingang des Referats wurden mit Fäkalien beschmiert, sodass die Räumlichkeiten zwei Tage lang nicht benutzbar waren.

Szenetreffpunkte neuer und alter Rechter

In der „Projektwerkstatt“ in Karben bei Frankfurt fanden dieses Jahr weiterhin rechte Veranstaltungen des umstrittenen Betreibers Andreas Lichert statt. Darunter waren unter anderem geschichtsrevisionistische Vorträge sowie Veranstaltungen mit Felix Menzel, dem Chefredakteur des neurechten Magazins „Blaue Narzisse“. NPD- Mitglieder sind dort gern gesehene Gäste. So nahm auch Daniel Lachmann an der Veranstaltung über „Skandalokratie“ am 24.01.2014 teil. Ein weiterer Veranstaltungsort für Rechte ist das Lokal „Hollywood“ in Leun- Stockhausen, das NPD-Kader Thomas G. gehört. Dort demonstrierten Anfang April spontan 50 Menschen gegen eine Veranstaltung der rechtsextremen Partei mit rund 20 Teilnehmenden. Weiterhin fand ein JN Hessen -Zeltlager im Herbst 2014 unter dem Motto “Heimat, Gemeinschaft, Bildung” statt.

Was bringt 2015?

Neonazis sind in Hessen auf vielen Ebenen aktiv, ihre Aktivitäten erstrecken sich über das ganze rechtsextreme Aktionsspektrum. Zwei Mordfälle mit möglichem rechtem Hintergrund sprechen eine deutliche Sprache. Für 2015 ist zu erwarten, dass sich die rechtsextreme Szene Hessens an der bundesweiten Mobilisierung gegen Flüchtlingsheime weiterhin beteiligen und lokal aktiv werden wird. Offen bleibt, ob die PEGIDA-Bewegung in Hessen weiter Fuß fassen können wird. Die stagnierende Teilnehmer_innenzahl in Kassel lässt gegenteiliges vermuten. Insofern wird die Ausweitung auf Frankfurt womöglich die entscheidende Bewährungsprobe für die islamophobe, rassistische Mobilisierung.

Mit freundlicher Unterstützung des MBT Hessen.

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