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Berlin 2011 Brandanschläge und verheimlichte Demonstrationen

Über das Jahr 2011 in Berlin berichtet uns heute die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR).

Was waren die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2011 für Berlin?

Das Dauerthema des Jahres war die Einführung der „Extremismusklausel“. Die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder fordert damit von allen Projekten gegen Rechtsextremismus nicht nur ein Bekenntnis zum Grundgesetz, sondern auch, die Beratungsnehmer/innen und Kooperationspartner/innen auf „extremistische“ Anschauungen zu überprüfen. Trotz starker verfassungsrechtlicher und breiter zivilgesellschaftlicher sowie politischer und wissenschaftlicher Kritik, bleibt die Klausel Bestandteil der Förderung. Die MBR hat diese antidemokratische Klausel nicht unterschrieben, da die damit verbundenen Misstrauensbekundungen gegen die Partner/innen und Beratungssuchenden untragbar sind und die MBR sich weigert, Menschen, die sich alltäglich für Demokratie einsetzen und sich dafür erheblicher Gefahren aussetzen, auf ihre Gesinnung hin zu durchleuchten.

Rechtsextremismus
Während des gesamten Jahres 2011 war das gewaltbereite und militante Agieren „Autonomer Nationalist/innen“ das prägende Merkmal des Berliner Rechtsextremismus. Die seit 2009 anhaltenden Angriffe auf Parteibüros, alternative Kneipen- und Kunstprojekte, Wohnungen von Antifaschist/innen und Einrichtungen der Jugendarbeit setzten sich auch in diesem Jahr fort und wurden nur kurz, nämlich während der Hochphase des Berliner Wahlkampfes unterbrochen. Im Zeitraum zwischen Januar ? November 2011 wurden der MBR 37 derartige Vorfälle bekannt.

Viele der Angriffsziele wurden auf einer Website der „Autonomen Nationalist/innen“ in einer Liste ?Linker Läden? veröffentlicht. Dass bei derlei nächtlichen Aktionen sehr wohl der Tod von Menschen billigend in Kauf genommen wird, wurde im Juni 2011 deutlich. In einer Nacht wurden mehrere Wohnhäuser anzezündet, in denen sich u.a. antifaschistische Projekte und Läden befinden, sowie das Anton-Schmaus Haus, eine Jugendfreizeiteinrichtung der Neuköllner Falken. Alle Orte waren auf der genannten Liste im Internet aufgeführt.

Zerstörte Fassade des Anton-Schmaus-Haus.

Während die Außenfassade des Falken-Hauses fast vollkommen abbrannte und die Einrichtung seither geschlossen bleiben musste, konnten größere Sachschäden und menschliche Opfer bei den anderen Anschlagszielen erst in letzter Sekunde verhindert werden. In der Nacht vor dem Brandanschlag übernachtete im Anton-Schmaus-Haus jedoch eine Kindergruppe, deren Unversehrtheit also nur einem glücklichen Umstand zu verdanken ist. Dieser Tatsache verdeutlicht die Skrupellosigkeit der rechtsextremen Szene auf erschreckende Art und Weise. Den Jugendverband traf es im Laufe des Jahres erneut. Am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, brannte ihre Einrichtung wiederholt. Die Vernetzung der Betroffenen und die Solidarisierung mit Ihnen bleibt eine wichtige Aufgabe von Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Denn viele der Betroffenen haben nicht den Eindruck, dass die Polizei für ihren Schutz garantieren könne. Vielmehr sind sie sehr verwundert über die gänzlich fehlenden Ermittlungserfolge der staatlichen Strafverfolgungsbehörden in Berlin bezüglich dieser offenen Bedrohungen Engagierter und der diversen Brandanschläge.

Einen herben Rückschlag für zivilgesellschaftliche Proteste gegen rechtsextreme Aufmärsche stellte auch die Politik der Geheimhaltung der Berliner Polizei im Jahr 2011 dar. Ein ausschließlich szeneintern beworbener rechtsextremer Aufmarsch am Kreuzberger Mehringdamm wurde nur durch einen zufälligen Kommentar eines Rechtsextremen in einem Internetforum der Öffentlichkeit bekannt. Die Polizei hatte weder die Presse noch das Bezirksamt darüber informiert, dass gewaltbereite Rechtsextreme durch Kreuzberg laufen würden. Die Situation eskalierte und es kam zu Übergriffen auf Gegendemonstrant/innen und Passant/innen vor den Augen der Polizei. Nach umfangreicher öffentlicher Kritik erklärte Innensenator Ehrhart Körting, dass Ort und Zeit von rechtsextremen Veranstaltungen künftig mindestens 24 Stunden im Vorfeld bekannt gegeben würden.

Nur vier Monate später behielt die Berliner Polizei erneut die ihnen bekannten Informationen zu einem Konzert der NPD für sich – auch auf konkrete journalistische Nachfrage. So konnte diese rechtsextreme Veranstaltung auf dem über mehrere Stunden großflächig abgesperrten Alexanderplatz problemlos und ohne bemerkbaren zivilgesellschaftlichen Protest durchgeführt werden. Dieses Vorgehen der Berliner Polizei stellt einen enormen Rückschritt dar. Menschen, die von der Berliner Politik stets aufgefordert werden, sich für Demokratie zu engagieren, alltäglich ?Gesicht zu zeigen? und die an jenem Tag friedlich gegen Rechtsextremisten protestieren wollten, sind hier ganz bewusst in die Irre geleitet worden.

Rassismus
Sowohl die rechtsextreme NPD als auch die rechtspopulistischen Parteien „Pro Deutschland“ und „Die Freiheit“ hofften, von der Auseinandersetzung um die rassistischen Thesen Thilo Sarrazins zu profitieren. Eine Motivation für eine dezidiert antimuslimische Ausrichtung stellten sicherlich die diversen Meinungsumfragen dar, welche allesamt erschreckend hohe Zustimmungswerte zu antimuslimischen Parolen aufweisen. Doch alle Rechtsaußen-Parteien konnten dieses Potential bei den Berliner Wahlen im September nicht für sich nutzbar machen.

Während die NPD nun mehr ohne Fraktionsstatus noch in den Bezirksverordnetenversammlungen von Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg vertreten ist, erhielten die rechtspopulistischen Formationen nicht ein einziges Mandat. Der NPD ging es in der neuen Konkurrenzsituation auch darum, sich als rassistisches Original den Wähler/innen zu präsentieren. So war ihr Wahlkampf durch zahlreiche inhaltliche Provokationen und Zuspitzungen geprägt. Tausendfach wurde eine rassistische Karikatur mit der Aufschrift „Gute Heimreise“ auf Plakaten verbreitet. Jung- und Erstwähler/innen erhielten in einem Anschreiben ein kostenloses „Rückflugticket“ für „rückreisewillige“ Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Das Wahlplakat mit dem Slogan „Gas geben“ stellte eine unverhohlene Anspielung auf die NS-Massenvernichtung dar und wurde gezielt auch vor jüdischen Einrichtungen in Berlin aufgehängt.

Der Wahlkampf von „Die Freiheit“ erreichte wenig Aufmerksamkeit, die Plakatwerbung wirkte äußerst bieder und wenig ansprechend. Selbst die groß angekündigte Saalveranstaltung mit dem niederländischen „Star“-Rechtspopulisten Geert Wilders zog nur wenige Bürger/innen Berlins an.

„Pro Deutschland“ konzentrierte ihren Wahlkampf auf die aggressive Hetze gegen den Islam und das Schüren von Ängsten beim Thema Innere Sicherheit. Selbst ihr „Anti-Islamisierungskongress“ Ende August in Berlin konnte auf Grund des breiten zivilgesellschaftlichen Protestes der Berliner/innen keine Außenwirkung entfalten.

Generell ist es den rechtspopulistischen Parteien in Berlin nicht gelungen, sich als wählbare Alternative mit Lösungskompetenzen für gesellschaftliche Probleme darzustellen und das in vielen Studien immer wieder belegte gesellschaftliche Potenzial für rassistische Einstellungen gegenüber Migrant/innen für sich mobilisieren ? auch dank der zivilgesellschaftlichen Akteure, die sich stets lautstark gegen das öffentliche Bekunden von rassistischen Positionen stellten.

Antisemitismus
Wie bereits in den vergangenen Jahren stellte der Aufmarsch am „Al-Quds“ (Jerusalem) Tag von weit über 1000 Demonstrant/innen über den Kurfürstendamm die größte antisemitische Manifestation in Berlin dar. Auf der diesjährigen Demonstration wurden immer wieder antisemitische Stereotype von den „jüdischen Kindermördern“ und „Brunnenvergiftern“ evoziert, um der Kritik am Verhalten der israelischen Armee Ausdruck zu verleihen. Leider gelang es auch in diesem Jahr nicht, breiten zivilgesellschaftlichen Protest zu mobilisieren.

Wie sind die Erwartungen für 2012?

Auch im Jahr 2011 haben Rechtsextreme verstärkt durch die Anmietung von (Gewerbe-) Räumen eigene Rückzugsräume aber auch ein auf die Szene ausgerichtetes gewerbliches Angebot aufzubauen versucht. Als Teil dieser rechtsextremen Infrastruktur existieren nunmehr im Lichtenberger Weitlingkiez und in Schöneweide von und für Rechtsextreme angemietete Örtlichkeiten. In Lichtenberg konnte sich ein enger Kreis militanter Autonomer Nationalisten eine Gewerbefläche anmieten, indem sie sich über ihren Verein ?Sozial engagiert in Berlin e.V.? tarnten. Im Sozialraum Schöneweide wurde die Struktur an rechtsextremen Treffpunkten und Ladengeschäften durch das ?Hexogen? ergänzt, in dem unter anderem Teleskopschlagstöcke und Pfefferspray verkauft werden. Die Rechtsextremen betrachten diese Gebiete bereits als ?ihre Kieze? und es wird in den kommenden Jahren besonderer Anstrengungen der Demokrat/innen bedürfen, dieser weiteren Etablierung von Angsträumen für potentielle Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt entgegenzuwirken.

Die Radikalisierung und Militanz der Autonomen Nationalisten wird auch im Jahr 2012 für engagierte Einzelpersonen, Initiativen und Projekte ein sehr reales Bedrohungs- und Gefährdungspotential darstellen ? hier gilt es alltägliche und aktive Solidarität dagegen zu setzen!

Mehr im Internet:
| Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin

Mehr auf netz-gegen-nazis.de:

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| Berlin: Brandanschläge und verheimlichte Demonstrationen
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2010

| Jahresrückblick 2010: Erstarkende Rechtspopulisten und mehr Gewalt in Berlin

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